Cigarrenfabrikation im 19 Jahrhundert: Der Großraum Gießen war eine Hochburg

Gail‘sche Cigarrenfabrik, Bücking Cigarrenfabrik, Balthasar Noll und Rinn & Cloos waren Aushängeschilder einer Kultur

(su/sp) Das schöne alte Fachwerk-Gebäude in Rodheim in der Fellingshäuser Straße, erbaut 1874 von der Firma Bücking als Cigarrenfabrik, steht bald leer und kann einer neuen Verwendung zugeführt werden. Teile des Hauses werden zurzeit noch durch den kommunalen Bauhof mit genutzt. Am neuen Bauhof am Ortsausgang, unweit der Sporthalle und des Sport-Stadions, wird zurzeit zügig gearbeitet. Wie lange hier Cigarren gefertigt wurden, ist nicht bekannt. Es steht aber fest, dass dies die letzte erhaltene Cigarrenfabrik in Rodheim ist. Zwei weitere wurden abgerissen. Ob diese Tatsache verpflichtet und sich hier bei anderer Nutzung auch irgendetwas in der Historie des Cigarrenmachens verwirklichen ließe?

Bekannt ist, dass die Gail‘sche Cigarrenfabrik mit Sitz in Gießen eine der ersten Tabakfabriken in Hessen war. Sie gehörte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu den führenden Herstellern von Cigarren in Deutschland und USA. Die Vorgeschichte der Gail‘schen Cigarrenfabrik liegt in Dillenburg, wo der Großvater des späteren Firmengründers Georg Philipp Gail, ein Kolonialwarenhändler, Ende des 18. Jahrhunderts die Herstellung von Rauchtabak aufgenommen hatte. Als Napoleon 1810 das Tabaklager beschlagnahmte, beschloss Georg Philipp Gail, ins nahe Gießen auszuweichen. Hier wurde Pfeifentabak und Schnupftabak, später auch Kautabak hergestellt. Am 15. November 1840 begann Gail mit der Herstellung von Cigarren, ein Produkt, das die Firma zu einer außerordentlichen Blüte brachte und bald die wirtschaftliche Entwicklung des gesamten Gebietes um Gießen bestimmte. Neben Gail entstanden weitere Tabak- und Cigarrenfabriken in Rodheim.

Auch in Vetzberg gab es eine Cigarrenproduktion bis 1871, geführt von der Firma Baltasar Noll im Vetzberger Hof. Warum die Firma Noll in Vetzberg aufgab, ist nicht bekannt. Dafür suchten 1871 Georgi und Klingspor eine größere Lokalität für die Cigarrenherstellung in Vetzberg. Sie waren bereit, das Herrenhaus des Vetzberger Hofes für sechs Jahre zu pachten und dafür jährlich 50 Taler Pacht zu entrichten. Es kam zum Pachtvertrag. 1876 ersteigerten Georgi und Klingspor den an der Burgstraße gelegenen Teil des Vetzberger Hofes, um hier Cigarren zu produzieren. Für ältere Vetzberger ist das bis heute „die aalt Foawrik“. 1935 wurde ein Teil des Gebäudes wegen Baufälligkeit geschlossen. Die neu erbaute Cigarrenfabrik an der Krofdorfer Straße konnte schon 1936 eingeweiht werden. 60 bis 70 Arbeitsplätze standen zur Verfügung. Die Wochenproduktion der Vetzberger Filiale betrug bis zu 52 000 Cigarren. Bis Juni 1979 wurden in Vetzberg Cigarren produziert. Die Vetzberger Cigarrenfabrik wurde von der Firma Minox übernommen. Bis in die 1950er Jahre war die Arbeit in der Cigarrenfabrik die wichtigste Erwerbsquelle für Frauen und der berufliche Einstieg für aus der Schule entlassene Mädchen. Auch Heimarbeit wurde angeboten.

Zu den ganz Großen im Gießener Land gehörte natürlich Rinn & Cloos

Die Gründung von Rinn & Cloos im Jahr 1895, kann man als eine relativ späte Gründung einordnen, im Verhältnis zu den vorgenannten einordnen. Ludwig Rinn (1870–1958) hatte in der Heuchelheimer Cigarrenfabrik Busch & Mylius die Cigarrenfabrikation erlernt, bevor er 1895 den Schritt in die Selbstständigkeit machte. Als Kapitalgeber konnte er den Niddaer Holzhändler Heinrich Wilhelm Cloos (1856–1920) gewinnen – der Firmenname Rinn & Cloos war geboren; Ludwig Rinn führte den Betrieb jedoch von Anfang an alleine.

Bedingt durch das Einfuhrverbot für Rohtabake und die Zwangsbewirtschaftung während und nach dem Ersten Weltkrieg kam es vermehrt zu Kurzarbeit und zu zahlreichen Betriebsschließungen in der tabakverarbeitenden Industrie. 1919 musste auch Rinn & Cloos vorübergehend die Fabrikation am Stammsitz in Heuchelheim schließen und alle Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen; Ludwig Rinns Kompagnon Heinrich Wilhelm Cloos hatte sich bereits 1917 aus der Firma zurückgezogen und war wenig später verstorben. Seit 1917 als Handelsgesellschaft geführt, wurde Rinn & Cloos 1920 in eine Familienaktiengesellschaft umgewandelt. Ab 1926 stiegen die Mitarbeiterzahlen wieder an, 1927 errichtete Rinn & Cloos eine Stiftung für Hinterbliebenenunterstützung und Pensionszuschüsse. Das 1933 von der nationalsozialistische Reichsregierung als arbeitsmarktpolitisches Instrument erlassene Maschinenverbot für die Cigarrenindustrie bedeutete eine vollständige Rückumstellung der Cigarrenproduktion auf Handwickelung. Durch die dadurch steigenden Produktionskosten und die sich parallel etablierende Zigarette begann schleichend ein allgemeiner Niedergang der Cigarrenindustrie. Die ersten von einstmals über 30 Cigarren- und Tabakfabriken im Gießener Land gaben in den 30er Jahren auf. Doch dank der geschickten Unternehmenspolitik Ludwig Rinns, welche die Übernahme von Konkurrenten in der Region – rentable Betriebe wurden weitergeführt, weniger rentable geschlossen – beinhaltete, wurden auch Firmen in Bünde und Minden in Westfalen erworben und die Firma so allmählich vom Branchenführer in Hessen zum Marktführer in Deutschland aufgebaut; der Standort Brotterode in Thüringen existierte bereits seit 1914. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 erfolgte eine Lockerung des Maschinenverbots, da durch den Kriegseinsatz der Männer und die zunehmende Dienstverpflichtung der Frauen sehr bald Arbeitskräfte fehlten, doch fehlende Rohstoffe erzwangen bald eine radikale Drosselung der Produktion. Zwar gab es Mitte der fünfziger Jahre nochmals einen kurzzeitigen Aufschwung, doch bedingt durch den tiefgreifenden Wandel im Tabakkonsum – weg von Cigarre und Pfeife hin zur Zigarette – war das Ende der Cigarrenherstellung unausweichlich. 1991 kam das Aus für Hessens letzte Cigarrenfabrik: Rinn & Cloos wurde an den Mitbewerber Dannemann Cigarrenfabrik verkauft und Ende März 1992 endgültig geschlossen.

Im Jahr 1994 gründete Steffen Rinn, der Enkel Ludwig Rinns, unter dem Namen Don Stefano eine neue Cigarrenmanufaktur in Heuchelheim und setzt seit dem so die familiäre Tradition von Rinn & Closs, wie auch die Cigarrenherstellung im Gießener Land, erfolgreich fort.

Das Foto zeigt das ehemalige Anwesen und Fabrikationsgebäude von Rinn & Cloos.