Geißlers Lupe
Früher war alles viel früher
(Kolumne) Nichtmal das stimmt. Der Klimawandel hat uns voll im Griff, früher war alles viel später. Und apropos früher – was war das denn für ein Genuss damals, frage ich mich. Ich erinnere mich noch gut an Zeiten, in denen auf vielen Weinkarten fälschlicherweise die Rheinpfalz stand und man beim Müller-Thurgau nicht nur die Elternreben Riesling und Silvaner lernte, sondern dieses Wissen auch bei Weinmeisterschaften abgefragt wurde. Ein südafrikanischer Wein? Eine absolute Rarität. Die Neue Welt war noch so jung, dass sie in Sachen Genuss kaum eine Rolle spielte. Eine Ära, in der vieles langsamer ablief, auch die Arbeitstage schienen länger zu sein.
Als Paul Bocuse und Eckart Witzigmann die Genussbühne betraten – und junge Winzer die Weinkarte revolutionierten
Aber war das wirklich Genuss? Sicher gab es hier und da Spannendes, vereinzelt auch große Weine. Doch die waren rar und meist unerschwinglich. Auch unser Land war nicht gerade für seine Genusskultur bekannt. Gegessen und getrunken wurde, was man kannte. Genuss war eher etwas für die „Reichen und Schönen“. Das hat sich glücklicherweise geändert. Zuerst langsam beim Wein, mit den neuen Gesetzen von 1971. Der Deutsche mag es ja bekanntlich nicht zu hektisch, wenn es um seine Gewohnheiten geht. Dann tauchten die ersten Sternetempel auf, und waren in aller Munde. Wer etwas auf sich hielt, sprach davon – wer es sich leisten konnte, speiste dort. Langsam regte sich etwas. Junge Winzer blickten über die Grenzen, die dank EU und Euro ohnehin offener wurden. Das bescherte uns eine neue Genussvielfalt. Deutscher Wein wurde stetig besser. Edelsüße Weine erreichten Preise großer Bordeaux und Burgunder. Der deutsche Riesling war wieder wer. Zugegeben, wir stolperten noch etwas durch Neuzüchtungen wie Kanzler, Albalonga, Mariensteiner, Domina, Carmina, Faber und Co., aber dann kam die Besinnung auf Klasse statt Masse. Wir wurden weltoffener. Kalifornien, Chile, Argentinien, aber auch Australien und Neuseeland durften es sein. Wer tiefer in die Materie eintauchte, probierte Weine aus dem Libanon, Israel, Marokko oder Uruguay. Auf Weinmessen diskutierte man über Hangneigung, Hektarerträge und den optimalen Pressdruck. Statt eiskaltem „Geist“ trank man Edelbrände bei Zimmertemperatur. Ja, man philosophierte über das richtige Glas für den besten Geschmack.
Die Cigarren-Revolte
Die Cigarre war cubanisch, fast immer. Dann stieß Davidoff eine Tür auf: Dominikanische Republik – auch eine Option. Und plötzlich tauchten Bauza, Indian Tabac Cigar, Dannemann mit der Artistline und Laura Chavin auf. Das war Ende der 90er. Beim Öffnen der Cigarre wurde diskutiert: gerader Schnitt oder Punch? Der V-Cut war noch verpönt. Man glaubte, eine Cigarre und das passende Getränk dazu – das war’s. Gott sei Dank haben wir uns weiterentwickelt – zu einer unglaublichen Vielfalt. Heute steht uns die ganze Welt des Genusses offen. Wir können uns informieren, fachsimpeln, mit Aromen spielen, vom Armagnac bis zum Zinfandel. Hier ein Geschäft mit begehbarem Humidor, dort ein Tasting. Welch eine Bereicherung in den letzten Jahrzehnten.
Genuss: Nicht alles perfekt – aber besser
Und der Klimawandel? An der Mosel sind heute Weinberge in gefragten Lagen, die früher als C-Lagen galten, weil es dort kühler ist. Merlot aus Deutschland? Absolut denkbar. Und Tabak? Seit 2006 wird er auf Gotland angebaut. 2019 rollte man dort bereits rund 15.000 Cigarren aus diesem Tabak. ‚Tektor‘ heißt die Cigarre, benannt nach einer tragischen Figur. Nun, sicher ist heute nicht alles perfekt. Aber in Bezug auf Genuss ist die heutige Zeit um Welten besser. Auch wenn es hier und da mal hakt…
Euer
Thomas Geißler