So wurde Deutschland zur Gourmet-Hochburg

Sauerkraut und Eisbein bestimmten lange Zeit das Bild der deutschen Küche / Mittlerweile haben nur noch Frankreich und Italien mehr Sterne in Europa

(Fallst/sp) Als Deutscher ist man es gewohnt, Respekt und Anerkennung für Ingenieurskunst zu bekommen. „Ja, ihr erfindet tolle Autos und große Maschinen, aber eure Küche, naja“, so hieß es lange aus dem Ausland. Der große Paul Bocuse hat dieses Urteil einmal auf den Punkt gebracht: „Die Deutschen sind sehr gut, wenn sie einen Mercedes bauen“, sagte er, „die Küche haben sie aber bestimmt nicht erfunden, auch wenn einige mitunter so tun.“

Deshalb war es umso bemerkenswerter, was Bocuses Landsmann Pascal Couasnon im Februar 2019 äußerte: Deutschland, so sagte er, sei eine der „führenden Gourmetnationen“. Dieser Satz aus dem Mund eines Franzosen war wie ein Ritterschlag. Vor allem, weil der Redner nicht irgendwer war, sondern der damalige CEO Food&Travel von Michelin, der diese Bemerkung während der Bekanntgabe der neuen Sterne fallen ließ.

308 deutsche Sternerestaurants führt der Guide Michelin in seiner aktuellen Ausgabe, darunter zehn mit der Höchstwertung. In Europa leuchten nur über Frankreich und Italien mehr Sterne. Das ist schon ein Wunder, wenn man bedenkt, wie und was in diesem Land einmal gespeist wurde. Selbst die zurückhaltende „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ notierte in diesem Sommer, dass „Deutschland wundersamerweise zu einem Feinschmecker-Land geworden“ sei. Hätte das gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts irgendjemand geglaubt?

In den 1950er-Jahren standen Ochsenschwanzsuppe, Toast Hawaii und falscher Hase auf den Speisekarten der Gastronomie. Und auch wenn es sicherlich hier und da fortschrittlichere Gerichte gab, so durfte Rinderzunge in Madeira mit Schoten und Püreekartoffeln schon als aromatischer Höhepunkt der Küche jener Zeit gelten. Beliebt waren Paprikakotelett auf Butterreis, das Eisbein, die Haxen und natürlich Schnitzel in allen Varianten. Nahrhafte Kost, gewiss, jedoch nichts für feinsinnige Gemüter. Doch wichtiger als eine elegante Aromenkomposition war damals eine großzügig bemessene Portion – die „Fresswelle“ schwappte durchs Land.

Vorbild Frankreich

In den 1960er-Jahren änderte sich die Einstellung zur Küche langsam, auch durch den Austausch mit dem großen Nachbarn Frankreich. Insbesondere in Baden, am Oberrhein, standen dank des nahen Elsass nun bisweilen Froschschenkel auf der Karte, man fand Bouillabaisse und andere frankophile Gerichte. In München feierte Feinkost Käfer große Erfolge: Helmut Käfer, der Onkel des heutigen Inhabers Michael Käfer, brachte aus den Pariser Markthallen Bresse-Hühner, Kaviar und Rohmilchkäse mit. Und ein gewisser Eckart Witzigmann bekam ein verlockendes Angebot aus Deutschland. Der Münchener Bauunternehmer Fritz Eichbauer hatte Ende der 1960er-Jahren keine Lust mehr, ständig ins Ausland zu fahren, um auf hohem Niveau essen zu gehen. Er wollte ein eigenes Restaurant vor der Haustür haben. So eröffnete am 2. Dezember 1971 das „Tantris“, misstrauisch beäugt von den Münchnern und der Presse. Zum einen, weil das indisch inspirierte Interieur so außergewöhnlich war. Zum anderen aber vor allem wegen der Küche, für die niemand anders als Witzigmann verantwortlich war.

Eichbauer hatte ihn überzeugt, aus Washington nach München zu kommen. Witzigmann hätte Privatkoch der Kennedy-Familie werden können, entschied sich aber für München – weil Eichbauer ihm fast jeden Wunsch erfüllte. Ein Glücksfall für Deutschland. Schließlich war der gebürtige Vorarlberger zu dieser Zeit schon ein weit gereister Koch, der unter Haeberlin, den Brüdern Troisgros und weiteren Granden in Frankreich gelernt hatte.

Schnell zeigte sich, dass Eichbauer einen goldenen Griff getan hatte. 1973 holte Witzigmann den ersten Stern, im Folgejahr den zweiten. Der 19. November 1979 war ein epochaler Tag für deutsche Gourmets. An diesem Tag erhielt in Deutschland zum ersten Mal ein Restaurant die Höchstwertung im Guide Michelin. Verantwortlich: Witzigmann, der sich inzwischen mit der „Aubergine“ selbstständig gemacht hatte und für seine Version der Nouvelle Cuisine mit drei Sternen ausgezeichnet wurde. Die Basis seines Erfolgs? So simpel und doch so schwierig: der Fokus aufs Produkt. Nouvelle Cuisine bedeutete, den Eigengeschmack der Zutaten freizulegen. Keine Mehlschwitzen mehr, knackiges statt verkochtes Gemüse, Fleisch à point gegart. Dafür brauchte man Ingredienzen der Extraklasse – und Witzigmann suchte danach, vorzugsweise in der Region. Belohnt wurde der Aufwand anfangs nicht immer. Gegenüber Falstaff blickt Witzigmann zurück, wie er „einmal im ›Tantris‹ für ein Paar ein Menü kochte, das ausschließlich aus regionalen Produkten erster Qualität bestand – Hecht und Lamm, Morcheln und Erbsen aus der nächsten Umgebung beispielsweise. Als ich dann an den Tisch trat und fragte, wie es geschmeckt habe, sagten die beiden, sie hätten die Kreativität vermisst. (…) Da war ich dann schon sehr enttäuscht, denn eigentlich geht es am Ende des Tages mehr um Respekt und Demut vor dem Produkt als um Kreativität.“

Im Gegensatz zum breiteren Publikum verstanden Gastro-Kritiker wie Wolfram Siebeck, Klaus Besser und Gert von Paczensky das Anliegen der Köche schnell und förderten diese Entwicklung. Endlich war ein Essen nicht mehr bloß Sattmacher, endlich entstand eine Esskultur, die diesen Namen auch verdiente.

Ausnahmekönner

Längst war ein Wettbewerb entstanden, die Küchenchefs spornten sich gegenseitig an. Witzigmanns Nachfolger im „Tantris“, Heinz Winkler, holte im Jahr 1981 drei Sterne, die er bis zu seinem Abschied verteidigte. Wichtige Impulse lieferten auch die „Schweizer Stuben“ in Wertheim-Bettingen: Hier stellte der Industrielle Adalbert Schmitt zunächst Jörg Müller und später auch dessen Bruder, Dieter Müller, ein, die ebenfalls beträchtlichen Anteil am deutschen Küchenwunder haben.

Dennoch, Witzigmann überstrahlte alle. Wer unter ihm kochte, konnte es weit bringen. Zu seinen Schülern zählen Bobby Bräuer, der Tiroler Hans Haas (der in diesem Jahr im „Tantris“ aufhört), Jörg Sackmann und natürlich der große Harald Wohlfahrt, der wiederum selbst eine eigene Schule begründete und in seiner langen Zeit als Küchenchef der „Schwarzwaldstube“ in Baiersbronn etliche hochbegabte Adepten wie Tanja Grandits, Christian Bau und Thomas Bühner ausbildete.

Doch auch ohne Besuch dieser Kaderschmiede eroberten Ausnahmekönner die erste Reihe. Etwa Sven Elverfeld, der im „Aqua“ schon seit Jahren auf höchstem Niveau und überaus kreativ kocht. Oder Marco Müller in Berlin, 2020 fürs „Rutz“ mit dem dritten Stern geadelt. Der wohl bekannteste deutsche Koch im Ausland, Tim Raue, machte eine Fusion aus asiatischen Einflüssen in der Hochküche populär.

Auch wenn München seit ein paar Jahren mit dem Aromenzauberer Jan Hartwig wieder einen Drei-Sterne-Koch hat und junge Talente wie Maike Menzel im „Schwarzreiter“ nach oben streben, das Kraftzentrum der deutschen Haute Cuisine verlagerte sich mit den Jahren nach Berlin. Hier machte das „Ernst“ mit seinem Fokus auf Gemüse Furore, hier befindet sich mit dem „Coda“ ein Zwei-Sterne-Restaurant, in dem nur Desserts auf der Karte stehen.

Noch immer orientiert sich die Mehrheit der deutschen Spitzenköche an Frankreich. Zugleich ist in den vergangenen Jahren ein Kochstil entstanden, der noch radikaler als unter den Vorgängern auf Regionalität setzt – im „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin etwa, wo weder Olivenöl noch Zitrone eingesetzt werden, im „Sosein“ in Franken, wo fast alles aus dem direkten Umfeld kommt, im „100/200“ in Hamburg, das ausschließlich nachhaltig arbeitet.

Letztlich war aber die Frage noch nie so unwichtig, welcher Stil eine Küche prägt oder von welcher Nation er beeinflusst ist. Feinschmecker sind Kosmopoliten. Und seit Längerem fühlen sie sich auch in Deutschland wohl.

https://www.feinschmecker.de/