Mut, Wermut und der Helmut Boom

Warum das einstige „Pennerglück“ plötzlich cool ist

(pos/sp) Wermut war jahrelang als Parkbankglück verschrien. Doch allmählich erlebt der Weinaperitiv ein Comeback und verdrängt den Gin aus den Regalen. Das ist kein Zufall, bedient er doch gleich zwei aktuelle Trends.

Ben, Jonas, Leon, Paul. So heißen Jungs heutzutage auf den Spielplätzen. Ein Helmut flitzt dagegen selten durch den Sandkasten. Kein Wunder, weckt dieser Name doch Erinnerungen an Männer aus einer anderen Zeit, an Dietl, Schmidt oder Kohl. Doch irgendwie faszinierte Markus Weiß dieser urdeutsche Name. Er war altbacken, aber auch sympathisch. Wie geschaffen für sein Herzensprojekt: einen eigenen, handgemachten Wermut.

2016 war Helmut noch eine grobe Idee, seit anderthalb Jahren stehen die Flaschen nun in den Regalen der Getränkehändler. Auf Spirituosen-Festivals bekam er sogar schon Preise verliehen. Leben kann Markus Weiß vom Verkauf allein trotzdem noch nicht. „Wir wollen erst einmal bekannt werden. Und hoffen, in diesem Jahr 10.000 Flaschen zu verkaufen.“ Aber Weiß glaubt, zum richtigen Zeitpunkt seinen Marketingjob an den Nagel gehängt und in das Getränke-Business eingestiegen zu sein. Denn Wermut hat ein Momentum, gilt als das nächste große Ding am Tresen. Der Gin-Hype flacht ab, die ersten Supermärkte stellen stattdessen Wermut zur Schau.

Dabei ist der neue Trend streng genommen ein ziemlich alter. Schon die Ägypter und alten Griechen versetzten ihren Wein mit allerlei Wurzeln, Blüten und Kräutern. Offiziell landete der Wermut aber erst 1786 in den Geschichtsbüchern, als der italienische Destillateur Antonio Benedetto Carpano Wein mit Zucker und ein paar Dutzend Gewürzen aromatisierte, unter anderem dem Beifußgewächs Artemisia Absinthum, heute besser bekannt als Wermutkraut, dem heilende Kräfte zugeschrieben werden.

Der Wermut fristete dann lange als Aperitif und Medizin ein Nischendasein, der große kommerzielle Durchbruch gelang erst in Amerika, als der Würzwein sich im späten 19. Jahrhundert als essentielle Zutat für Cocktails etablierte. Dass die bittersüße Spirituose mit einem ­Alkoholgehalt zwischen 14,5 und 21,9 Volumenprozent nun eine Renaissance erlebt, liegt an den vielen kreativen Bars, die ihre Liebe zu klassischen Cocktails wiederentdecken. Der von James Bond gefeierte Martini wäre ohne Wermut genauso wenig vorstellbar wie der Negroni, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiert und immer noch auf fast jeder Karte zu finden ist. „Früher war Wermut verpönt, weil schlechter Wein aufbereitet wurde, um ihn trinkbar zu machen“, sagt Juri Reib, leitender Barkeeper der Bar Noir im Hamburger Hotel Tortue. „In den vergangenen Jahren gab es jedoch eine merkliche Veränderung. Moderne Wermuts sind vielschichtiger: Sie liefern Süße und eine Floralität, schmecken nach Beeren oder Ananas. Damit sind vollkommen neue Interpretationen der Klassiker möglich.“ Reib glaubt, dass Wermut noch ein weiterer Trend in die Karten spielt: Die Zeiten des Wirkungstrinkens sind vorbei, leichte Drinks erobern die Tresen. „Wein-basierte Spirituosen wie Wermut, aber auch Portwein oder Sherry lassen sich perfekt mit Tonic kombinieren. Davon kann man problemlos mehrere Drinks am Abend trinken. Wir merken, dass die Nachfrage steigt.“ Hoch im Kurs stehe ebenfalls der französische Lillet, der dem Wermut ähnlich ist, aber anders heißt, weil nicht das Wermutkraut die bittere Note liefert, sondern Chinarinde.

Weniger Alkohol, dafür höherwertige Spirituosen – diese Entwicklung beobachtet auch Bacardi-Deutschland-Chef Stephan Tenhaef. „Der Trend geht zu weniger Alkohol und weniger Kalorien. Zugleich findet eine Premiumisierung statt: Es gibt bei den Kunden ein immer höheres Qualitätsbedürfnis und auch die Bereitschaft, dafür auch mehr zu bezahlen.“ Vorangetrieben wird das vor allem durch die Millennials, welche die Aperitifkultur zelebrieren. „Auf der ganzen Welt wollen junge Menschen mit Freunden insbesondere am frühen Abend zusammen sitzen, mit einem leichten Getränk in der Hand und den Augenblick genießen.“ Tenhaef bezeichnet das als „Terrassenmoment“.

Aber die Millennials gehen mit ihrer Zeit nicht nur anders um als frühere Generationen, sie trinken auch anders: „Wermut wurde früher pur konsumiert, heute trinkt man ihn bevorzugt mit Tonic“, so Tenhaef. Sein Konzern hat auf die veränderten Trinkgewohnheiten reagiert und mit dem Fiero eine Martini-Variation auf den Markt gebracht, die speziell zum Mixen mit Tonic entwickelt wurde.

Wie vielfältig Wermut ist, sieht man daran, dass er nicht nur in Bars verwendet wird, sondern auch in der Küche. Viele Köche nutzen den Würzwein zur Verfeinerung von Fischsuppen oder zum Ablöschen des Bratensatzes, der Fernsehkoch Christian Rach schwört auf eine weiße Sauce ohne Mehl, die mit weißem Wermut, Geflügelbrühe, Sahne und Butter angerichtet wird. Selbst Desserts bekommen durch die bittersüssen Tropfen eine interessante Note. Vielseitig und wenig Alkohol – eigentlich passt Wermut perfekt in den Zeitgeist. Und doch hat er einen schlechten Ruf. Der Begriff „Wermutbruder“ wurde lange synonym für einen Obdachlosen verwendet. Das schlechte Image kennt auch Sebastian Brack. Als er 2013 sein Tonic-Startup Thomas Henry gewinnbringend verkauft, stürzte er sich direkt in sein nächstes Projekt: Belsazar Vermouth, ein hipper Wermut aus Berlin. Sein Umfeld reagierte jedoch überrascht. „Viele fragten mich, warum um alles in der Welt ich jetzt Pennerglück mache“, so Brack. „Ich habe das gar nicht verstanden. Für mich war die Kategorie hochspannend!“ Sechs bis acht Monate tüftelte Brack gemeinsam mit seinem Partner Maximilian Wagner an der Rezeptur, im April 2014 wurde die erste Flasche verkauft. Und sie haben viel richtig gemacht: Das rautenförmige Etikett entdeckt man immer häufiger in Szene-Bars, die Hälfte der Flaschen werden im Ausland verkauft. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Großen auf die jungen Berliner aufmerksam wurden. Im März 2018 kaufte schließlich Diageo – einer der größten Spirituosen-Hersteller der Welt – die Marke, über die Summe schweigen beide Seiten. Schnell zu verkaufen war nie das Ziel, sagt Brack. „Doch irgendwann stößt man an Grenzen. Und steht vor der Wahl: Klein bleiben oder mit jemanden sehr schnell wachsen? Solche Chancen hat man nicht oft im Leben.“ Mit der zusätzlichen Vertriebs- und Marketingpower spart er 20 oder gar 30 Jahre, schätzt Brack. “Eine Bank hätte uns niemals Geld gegeben. Das brauchten wir aber, um auch Fehler machen zu können.” So musste man einmal 6.000 Liter Wein wegschütten, weil er falsch mazeriert wurde. Ein Fehler, der die junge Firma 30.000 Euro kostete.

„Das ist schade, auch ein Martini spricht nicht von Wermut und betont stattdessen die Marke“, findet Markus Weiß, der Helmut-Gründer. „Dabei könnten die Großen die ganze Kategorie stärken und den Menschen zeigen, dass ein vermeintlich in Verruf geratenes Produkt mit frischen Zutaten richtig cool sein kann.“

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